Glosse aus Freitag
http://www.freitag.de/2006/PDF-Archiv/Freitag-2006-14.pdf
HILFESTELLUNG
Von Mathias Klaschka
Ich bin spielsüchtig! Jetzt ist es raus. Ich
glaubte meiner Psychologin sofort, als sie mir
dies mit leichtem Zittern in der Stimme und
Betroffenheit in den Augen mitteilte. Wer bin
ich, dass ich ihr widersprechen würde? Die
Frau hat ein Diplom an der Wand, und ich
besitze nicht mal einen Führerschein.
Also sitze ich heute Abend im Prenzlauer
Berg bei den A.S., den Anonymen Spielsüchtigen,
die sich passenderweise in einer
Grundschule treffen. Mir gegenüber sitzt
Andrea B., die zwar fresssüchtig ist, sich jedoch
im Zimmer geirrt hat – vielleicht gefallen
ihr aber auch nur die Plunderteilchen in
diesem Raum besser als die erfrischenden Karottenstäbchen
bei den A.F. nebenan. Mario
M. berichtet uns von seiner Kindheit und
dem erschütternden Weihnachtsabend, als
ihn sein Vater beim Halma schlug – ein traumatisches
Erlebnis, für das die anwesende
Psychologin nicht nur Zittern und Betroffenheit
parat, sondern auch ein verständnisvolles
Nicken im Angebot hat.
Mir gefällt’s hier. Ich bin so dankbar für
jede hilfreiche Geste, für diese Gruppe und
für das Verständnis der sozialen Einrichtungen,
die es mir ermöglichen, meine Selbstständigkeit
in ihre Hände zu legen. Danke!
Ist das Leben nicht schon schwer genug, wer
wollte das auch noch alleine bestehen? Birgit
S. – schräg gegenüber – kann zum Beispiel
nicht an einem Häuserblock vorbeigehen,
ohne den inneren Zwang zu verspüren, jeweils
vier Häuser in ein Hotel umzutauschen.
Die Psychologin nennt dies das »Monopoly
«-Syndrom. Thomas G. sitzt schweißgebadet
neben Birgit und füllt seinen wöchentlichen
Lottoschein aus, ohne den er nicht mehr
existieren kann.
Ich selbst bin süchtig nach Flipper-Automaten.
Für mich ist das Flippern eine Metapher
aufs Leben. Ich genieße das Abschießen
der kleinen Stahlkugel aus ihrem metallenen
Geburtskanal, ergötze mich daran, sie wieder
und wieder hinauf zu katapultieren und zuzusehen,
wie sie links, rechts, oben und unten
abprallt, immer aufs Neue weggestoßen,
von magnetischen Rammböcken geprügelt,
erniedrigt und gedemütigt wird, nie ans Ziel
kommt wie ich, bis sie schließlich müde und
ausgebrannt ins Aus rollt, um sofort wieder
hochgejagt zu werden. Es hat kein Ende, es
darf kein Ende haben. Deswegen muss ich
spielen. Sicher, ich könnte mit meiner Zeit
Sinnvolleres anfangen: mich um hungernde
Kinder kümmern, meiner Oma beim Einkaufen
helfen oder sanft einschlafen beim
monotonen Zischen des Gashahns. Aber es
geht nicht. Ich bin unentschlossen, willenund
gedankenlos. Und brauche deshalb ein
wenig Führung. Lebenshilfe, am besten rund
um die Uhr, schließlich zahle ich Steuern. Ich
brauche Warnhinweise am Waldrand, sonst
rechne ich nicht mit herumliegenden Ästen,
über die ich stolpern könnte. Ich brauche gesetzlich
angeordnete Werbe-Auflagen für
Wettanbieter, sonst wüsste ich nicht, dass sie
Abzocker sind, die es besonders auf Loser
wie mich abgesehen haben. Ich will ausführliche
Gebrauchsanweisungen für Mikrowellen,
in denen explizit steht, dass ich keine
Kleintiere hineinstecken darf. Ich brauche
Warnungen auf Zigarettenschachteln, sonst
weiß ich ja nicht, dass sie womöglich tödlich
sind; und wenn ich schließlich Tbc bekomme,
kann ich den Tabakkonzern für meine
Blödheit blechen lassen. Wen aber kann ich
verklagen, weil ich unfähig zum Leben bin?
Gott?
Hilfe ist gut! Nicht umsonst ist unsere Lebenserwartung
in den letzten Jahrzehnten
um ein Vielfaches gestiegen. Ist doch klar,
dass die Neandertaler nur Mitte 20 wurden,
denen hat einfach niemand geholfen! Meine
Eltern meinten, ich müsse mein Leben als Erwachsener
selbst in die Hand nehmen, aber
was wissen die schon? Die hatten kein Diplom
an der Wand, sondern nur einen gestickten
Goldhelm von Rembrandt, dafür
waren sie stark alkoholabhängig, weil sie
nicht wussten, dass Alkohol süchtig machen
kann – steht ja nicht drauf.
Die Gruppensitzung ist beendet, endlich.
Jetzt kann ich mir zu Hause noch die zweite
Halbzeit der Champions League ansehen –
bin ich fernsehsüchtig? – und Marcel Reif
zuhören, der mir unentwegt erklärt, wie ich
das Spiel zu finden habe, denn alleine kann ich
das unmöglich beurteilen. Ich gehe auf die
Straße, ein hagerer Mann in schwarzer Uniform
sagt mir, dass ich jetzt stehen bleiben
muss. Er gehört zu einer neuen Behörde, die
Beamte losschickt, um die Bürger vor etwaigen
Gefahren im Straßenverkehr zu schützen.
Auf diese Weise sind Tausende neuer Jobs entstanden.
»Sie glauben ja gar nicht, wie viele
Leute zu blöd sind, nach links und rechts zu
schauen, bevor sie die Fahrbahn überqueren.«
Seit diese Engel der Großstädte im Einsatz
sind, ist die Zahl der Verkehrstoten um 50
Prozent zurückgegangen. Ich halte mich an
seinem wehenden Mantel fest, während er
mich über die Straße führt, mein sicherer Lotse,
und schenke ihm ein Lächeln. Ich bin so
dankbar für jede Art von Hilfestellung.